10. Jahrestag – Geschichten von Überlebenden: Riyadh
Ein Traum verloren – und wiedergefunden
Riyadh wuchs im Tel-Banat-Komplex auf, umgeben von einer liebevollen, glücklichen Familie. Sein Vater, ein Lehrer, war das Rückgrat der Familie; seine Mutter schenkte ihren Kindern unermüdlich Zuneigung und Geborgenheit.
Riyadh war ehrgeizig und selbstlos. Er verbrachte seine Zeit meist mit Lesen oder damit, seiner Familie zu helfen. Sein Traum war es, eines Tages eine angesehene Universität zu besuchen und eine erfüllende Karriere zu beginnen.
Doch dieser Traum zerbrach im August 2014, als Terroristen des sogenannten IS Sindschar überfielen und grausame Völkermordverbrechen gegen das jesidische Volk verübten. Für Riyadhs Familie hatte das katastrophale Folgen: 35 seiner Angehörigen wurden getötet oder verschleppt – darunter sein Vater und sein ältester Bruder. Andere überlebten nur knapp.
Aus einem hoffnungsvollen jungen Mann wurde plötzlich ein junger Mensch, der sich um seine jüngeren Geschwister und seine gebrochene Mutter kümmern musste. Sie hatten ihr Zuhause, ihre Familie und ihre Gemeinschaft verloren.
Inmitten der Verzweiflung erinnerte sich Riyadh an die Worte seines Vaters:
„Eine kluge Entscheidung kann alles verändern.“
Riyadh nahm sich diesen Rat zu Herzen. Er übernahm die Verantwortung und die Rolle des Ernährers für seine Familie, fand Arbeit und verzichtete zunächst auf seine eigene Bildung, damit seine Geschwister zur Schule gehen konnten. Mit seinem Rückhalt schlossen zwei von ihnen erfolgreich ihr Studium ab: Seine Schwester erwarb einen Abschluss am College of Arts, sein Bruder wurde Krankenpfleger. Kurz darauf begann auch die jüngste Schwester der Familie ein Programm im Bereich der öffentlichen Gesundheit.
Dann endlich war Riyadh selbst an der Reihe. Nachdem die Ausbildung seiner Geschwister gesichert war, schrieb er sich an der Al-Hadbaa-Universität ein, im Fachbereich Englische Sprache. Er schloss das Studium kürzlich als einer der besten Studierenden seines Jahrgangs ab.
Trotz aller Erfolge bleiben die Wunden tief. „Völkermord ist ein schrecklicher Albtraum“, sagt Riyadh. „Er hat mir das Kostbarste genommen, was ich hatte. Die Trauer um den Verlust [meiner Familie] hätte mich fast umgebracht.“
„Aber ich habe mich geweigert zu glauben, dass mein Leben damit vorbei ist – auch wenn es nie wieder so sein wird wie früher. Ich wusste, dass ich standhalten muss. Bildung – für mich und meine Geschwister – war unser stärkstes Mittel gegen das, was der IS uns angetan hat.“
„Wir hatten die Wahl: aufzuhören zu existieren oder weiterzuleben und zu kämpfen. Auch heute noch begleiten mich die Worte meines Vaters. Die kluge Entscheidung zu treffen, war unsere beste Waffe gegen das Böse, mit dem wir konfrontiert waren.“
Zum 10. Jahrestag des Völkermords an den Jesiden teilt Nadia’s Initiative Geschichten von Überlebenden wie die von Riyadh. Diese persönlichen Zeugnisse zeigen auf erschütternde Weise die Realität des Völkermords – und zugleich die außergewöhnliche Stärke, mit der Überlebende ihr Leben wieder aufbauen.