Geschichten von Überlebenden: Sari – Die Frau, die die Welt getragen hat
Ein friedliches Leben, plötzlich zerstört
Am ruhigen Rand von Sindschar, in einem Ort namens Al-Waleed-Komplex, führte Sari ein Leben voller Einfachheit und Freude. Ihre Tage verbrachte sie mit der Arbeit auf dem Land, umgeben vom Lachen ihrer fünf Kinder und der beständigen Präsenz ihres Mannes, dessen Stärke das Zuhause zusammenhielt. In ihr wuchs neues Leben heran – ein stilles Versprechen der Hoffnung. Der Rhythmus ihres einfachen Lebens schien so beständig wie die Erde unter ihren Füßen.
Doch Anfang August 2014, ohne jede Vorwarnung, drang der Terror in ihre Straßen – das Dröhnen von Motoren, das Geschrei von Männern, in deren Augen keine Spur von Gnade lag. Terroristen des sogenannten Islamischen Staates (IS) fegten wie ein Sturm über Sindschar hinweg. Sari klammerte sich an ihre Kinder, als ihre Welt in Angst und Verwirrung zusammenbrach – die Wärme des Zuhauses ersetzt durch den kalten Griff des Chaos. In einem einzigen Moment geriet der Boden unter ihnen ins Wanken, und sie wurden in einen Albtraum aus Gewalt und Ungewissheit gestürzt – eine Welle des Grauens, die Sicherheit, Zugehörigkeit und die stille Schönheit ihres früheren Lebens hinwegfegte.
Der erste verheerende Schlag
Dieser erste Tag brachte nicht nur den Terror – er riss Saris Welt auseinander. Mitten im Chaos wurde ihr Mann, ihr Fels in der Brandung, verschleppt. Sie sah sein Gesicht ein letztes Mal – ein stilles Flehen – bevor er in die Hände der IS-Kämpfer fiel. Es fühlte sich nicht wie eine Trennung an, sondern wie eine Amputation – ein essenzieller Teil von ihr wurde ihr entrissen. Die Kinder, zu jung, um zu begreifen, was geschah, klammerten sich an sie, ihre Schreie ein Spiegel ihrer stummen Verzweiflung. Was einst eine Familie war, war nun nur noch ein zerbrochenes Gefüge, nicht mehr durch Liebe, sondern durch Angst verbunden. Jeder Moment wurde bestimmt vom grausamen Willen der Extremisten.
Drei Jahre unerträglichen Leidens
Saris Gefangenschaft verwandelte sanfte Tage in Qual – sie wurde ihrer Freiheit, ihrer Identität und ihrer Hoffnung beraubt. Sie war schwanger – trug neues Leben inmitten des Todes – und die Brutalität, die sie erlebte, ließ keinen Raum für Gnade. Doch es waren ihre Kinder, die ihr am meisten auf dem Herzen lagen. Jeder Hungerschmerz, jedes Ziehen in ihrem Körper, wurde verstärkt durch die Angst um sie. Ihre kleinen Hände klammerten sich an sie; ihre einst leuchtenden Augen waren müde und leer geworden – gezeichnet von dem, was kein Kind je sehen sollte: Hinrichtungen, Folter, Bomben. Obwohl sie selbst Schutz gebraucht hätte, schöpfte sie alle Kraft, um sie zu beschützen, um einen Hauch von Normalität zu bewahren. Doch die Gewalt war unaufhörlich – eine Welle, die sie alle zu verschlingen drohte.
Der unvorstellbare Verlust einer Mutter
In dieser gnadenlosen Welt brachte Sari ihr Kind zur Welt – tränenreich, ausgehungert und völlig allein. Ihr Sohn kam nicht in Frieden zur Welt, sondern im Kampf – sein erster Atemzug geschah in der vergifteten Luft der Gefangenschaft. Schwach und ausgehungert konnte Saris Körper ihn nicht ernähren. Sie sah hilflos zu, wie sein Weinen leiser wurde, ihre verzweifelten Versuche, ihn zu stillen, blieben ohne Erfolg. Nur wenige Tage nach seiner Geburt starb er in ihren Armen – nicht an einer Krankheit, sondern an Mangel. Sie begrub ihn in Kaser Al-Mehrab, einem trostlosen Ort, der zur Grabstätte ihrer zerbrochenen Hoffnungen wurde. Als sich die Erde über seinen kleinen Körper schloss, fühlte sie, wie ein Teil ihrer eigenen Seele mit ihm verschwand – ein Schmerz, der tief in ihr nachhallen würde, für immer.
Der endlose Albtraum der Versklavung
Drei unbarmherzige Jahre lang waren Sari und ihre Kinder in einem wachen Albtraum gefangen – verschleppt und immer wieder ihrer Menschlichkeit beraubt. Von dem kargen Boden, auf dem sie ihr neugeborenes Kind begraben hatte, wurden sie nach Syrien gebracht – ein neuer Ort des Grauens, erfüllt mit derselben Angst und Verzweiflung. Versklavt und der Willkür ihrer Peiniger ausgeliefert, brachte jeder Tag neue Demütigungen, jede Gewalttat eine weitere Wunde an ihrer Seele. Ihre Kinder, einst voller Leben, zuckten nun bei jedem Geräusch zusammen. Die Grausamkeiten, die sie mitansehen mussten – unaussprechliche Taten, die kein Mensch je erleben sollte – hinterließen Spuren, die tiefer gingen als Narben. Die Nächte waren am schlimmsten – ihr Geist spielte das Erlebte immer wieder ab und stellte sich vor, was noch kommen könnte. Es gab keine Hilfe, keine Erleichterung – nur die kalte Gleichgültigkeit ihrer Peiniger und das Grauen vor dem, was jeder Moment bringen könnte.
Ihre Trauer – die Trennung von ihrem Ehemann, der hilflose Tod ihres Neugeborenen, die ständige Gefahr für ihre verbliebenen Kinder – war nicht nur eine Last, sondern ein Berg, der sie zu erdrücken drohte. Und doch fand sie – durch Erschöpfung, Hunger und Angst hindurch – eine Kraft, die jede Logik überstieg. Der unerschütterliche Wille einer Mutter, zu überleben, zu schützen, durchzuhalten. Diese Kraft kam nicht aus Hoffnung, sondern aus der rohen, verzweifelten Notwendigkeit, ihre Kinder vor einer wahnsinnig gewordenen Welt zu bewahren. Diese Kraft – wild, zitternd und aus Liebe geboren – wurde ihre einzige Lebensader an einem Ort, an dem keine Gnade zu finden war.
Eine waghalsige Flucht
Nach drei Jahren unvorstellbarer Qual durchbrach endlich ein zarter Hoffnungsschimmer die Dunkelheit. Die Flucht war ein verschwommener Wirbel aus Verzweiflung, Mut und dem erbitterten Entschluss einer Mutter, das Leben für ihre Kinder zurückzuerobern. Ihr Körper schmerzte, ihr Geist war erschöpft, und doch rannte Sari. Mit jedem barfüßigen Schritt über den erbarmungslosen Boden sprengte sie nicht nur ihre physischen Ketten, sondern auch die unsichtbaren Fesseln von Terror und Verzweiflung, die sie gefangen hielten. Die Luft veränderte sich, als sie die Grenze zur Sicherheit überschritten – einst schwer vom Tod, nun erfüllt vom scharfen, ungewohnten Geschmack der Freiheit. Doch auch die Befreiung war keine Erlösung. Die Flucht war kein klarer Schnitt, sondern ein trotziges Auftauchen aus dem Abgrund. Sari und ihre Kinder hatten überlebt, was sie hätte zerstören sollen. Und das Überleben selbst war ein Sieg – über diejenigen, die versucht hatten, sie auszulöschen.
Die Last des Verlustes
Als die Freiheit schließlich kam, war sie nicht die erlösende Freude, die Sari sich einst erträumt hatte. Sie war schwer – beladen mit Trauer, überschattet vom Schmerz all dessen, was verloren gegangen war. An erster Stelle stand ihr neugeborener Sohn – geboren in der Gefangenschaft, begraben im trostlosen Boden von Kaser Al-Mehrab – sein kurzes, ungelebtes Leben ein stiller Vorwurf an eine Welt, die ihn nicht beschützt hatte. Und dann ihr Mann – die Liebe ihres Lebens, genommen an jenem ersten Tag des Grauens – blieb in ihrer Erinnerung gegenwärtig, nicht als Flüstern, sondern als ständiger, bohrender Schmerz. Sein Fehlen war eine Wunde, die sich nie schloss. Das Leben, das sie sich gemeinsam aufgebaut hatten, die Familie, die sie einst waren war zerbrochen, bis zur Unkenntlichkeit. Sari erinnerte sich nicht nur an ihre Verluste – sie trug sie in sich. Offene, rohe Wunden, die bei jedem Schritt in die Zukunft wieder zu pochen begannen – ein ständiger Beweis dafür, dass auch das Überleben seinen Preis hat.
Ein neuer Kampf ums Überleben
Nach der Flucht aus der Gefangenschaft blieb Sari und ihren Kindern nichts anderes, als in ein Vertriebenenlager zu ziehen – ein provisorisches Zelt war nun ihr Zuhause, ihre Herzen schwer, ihre Körper erschöpft. Ohne ihren Mann musste Sari nun allein Mutter und Vater sein – ihre eigenen Bedürfnisse nach Ruhe und Fürsorge wurden von der nackten Notwendigkeit des Überlebens verdrängt. In einer Welt, die sich kalt und gleichgültig anfühlte, arbeitete sie unermüdlich – mit wunden Händen für weniger als vier Dollar am Tag, kaum genug, um das Nötigste zu sichern. Es gab niemanden, der half, niemanden, der ihre Last teilte. Jeden Morgen wachte sie erschöpft und schmerzgeplagt auf – und machte dennoch weiter. Die hungrigen Augen ihrer Kinder, ihre kleinen, schlichten Hoffnungen – das war die letzte Kraftquelle, die ihr blieb.
Rückkehr in ein zerstörtes Zuhause
Nach drei Jahren in Gefangenschaft und weiteren drei Jahren in der Vertreibung kehrte Sari nach Sindschar zurück – nicht in der Hoffnung auf Trost, sondern mit dem Mut, sich der Zerstörung zu stellen. Sie hatte sich an Erinnerungen festgehalten – an einen Ort voller Liebe und Leben – doch was sie vorfand, war eine leere Ruine. Der Zaun war niedergerissen, das Haus geplündert – beraubt aller Besitztümer, jedes Zeichens eines früheren Lebens. Selbst der Strom war verschwunden, und Sari und ihre Kinder lebten in einer Dunkelheit, die tiefer war als die Nacht – ein Spiegel ihres inneren Schmerzes und ihrer Leere.
Der langsame Weg in die Selbstständigkeit
Langsam – anfangs fast unmerklich – begannen sich die Dinge zu verändern. Sari spürte, wie sie sich ein wenig aufrichtete und nicht mehr von der Angst verfolgt wurde, wie sie ihre Kinder ernähren sollte. Mit nichts mehr in der Hand erhielten sie Unterstützung durch Nadia’s Initiative – darunter Hilfe zur Existenzsicherung, Bildungsangebote und Rehabilitationsmaßnahmen, die es ihnen ermöglichten, ihr Leben Schritt für Schritt wiederaufzubauen. Später erhielten sie auch Schutz und Anerkennung im Rahmen des Gesetzes für Überlebende des Völkermords an den Jesiden (Yazidi Survivors’ Law), das die erlittenen Verbrechen offiziell anerkannte und die Grundlage für staatliche Entschädigung, Rehabilitierung und Wiedereingliederung schuf. Zum ersten Mal seit Jahren konnten sie beginnen, auf sich selbst zu vertrauen. Doch selbst als die Stabilität wuchs, blieb der wahre Frieden – emotionaler Abschluss, Heilung vom Verlust – schwer greifbar, immer knapp außerhalb ihrer Reichweite.
Die bleibenden Narben des Traumas
Sari hatte nicht einfach ihr Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit verloren – sie waren ihr gewaltsam entrissen worden. Die Nächte brachten weiterhin keine Ruhe, sondern nur Erinnerungen, die tief schnitten: der Tod ihres Säuglings, die Abwesenheit ihres Mannes und die Grausamkeit der IS-Kämpfer. Diese Wunden waren nicht verheilt. Das Überleben hatte den Schmerz nicht beendet – es hatte ihn nur verwandelt. Es gab keinen Trost, keinen Raum zum Atmen, keine Kraft für sich selbst. Und dennoch hielt sie durch. Was sie weitermachen ließ, war etwas Instinktives, Unerschütterliches: die tiefe, alles verzehrende Liebe zu ihren Kindern – eine Liebe, die stärker war als Schmerz, Verzweiflung und Erschöpfung. Sie war das letzte Licht – und Sari trug es wie eine Fackel durch die Dunkelheit.
Die unerschütterliche Kraft einer Mutter
Sari – eine Frau, die das Unvorstellbare überlebt hat – erhebt sich immer wieder: um zu arbeiten, sich um ihre Kinder zu kümmern, ihr Leben zurückzufordern. Sie verkörpert den unzerbrechlichen Geist der jesidischen Frauen – und die unerschöpfliche Kraft der Mutterliebe. Ihr stiller Kampf um Würde, um ihre Kinder und um ein kleines Stück Frieden in einer Welt, die sie im Stich ließ, ist noch nicht zu Ende. Es ist ein leises, kraftvolles Lied des Überlebens – ein Echo eines Schmerzes, der für jeden Menschen zu groß scheint, und doch getragen wird mit einer Stärke, die jedes Begreifen übersteigt.
Eine Stärke, die nicht trotz ihres Leidens existiert – sondern wegen ihm.




